Von Karl-Heinz Opper
Was fällt einem normalen Menschen ein, wenn er Chianti hört? Eben. Er denkt an Wein und Wildschwein, an sanfte Hügel, schnuckelige Städtchen, die von Architektur-Barbaren noch nicht zerstört wurden, an Kultur und Erholung. Was aber fällt dem polyglotten Radsportler ein? L’Eroica! Gut 1400 Kilometer liegen zwischen Detmold und Gaiole, Start und Ziel, Herz der Veranstaltung. So was kann man also nicht jedes Wochenende in Angriff nehmen.
Unser kleines Hotel (www.lafontedelcieco.com) liegt direkt oberhalb der Piazza, nur ein paar Treppen sind zu bewältigen; der Vorgarten gleicht einer Tribüne, von der aus man das Treiben beobachten kann. Absperrgitter, Transparente, ein Podest und das Zelt eines Sponsors (eine Bank! Und das in diesen Zeiten) weisen auf die kommenden Ereignisse hin. Es ist nicht schwer, sich zu orientieren, überall gutgelaunte Radsportler im regen Austausch. Auch ohne perfekte Sprachkenntnisse ahnt man, worum es geht. In der Turnhalle, auf der anderen Seite der Straße, drängen sich schon am Freitag die ankommenden Besucher um die Händlertische. Alte Komponenten und Teile, die längst nicht mehr produziert werden, sind liebevoll arrangiert (manche riechen arg nach Keller) und es fallen bewundernde Blicke auf die sorgfältig restaurierten Oldtimer. Auf langen Stangen hängen echte alte Wolltrikots, Löcher bürgen dabei für Originalität.
Umdrängt von Bewunderern lässt sich der Star der L’Eroica ein ums andere mal interviewen und präsentiert sich den Kameras. Schließlich geht es um ein wichtiges Ziel, die Erhaltung der strade bianche, der nicht-asphaltierten Straßen im Chianti, dieser wundervollen Region in der Toscana.
Am Samstag herrscht ein hektisches, nervöses Gedränge bei der Anmeldung, wie bei allen großen Jedermann-Veranstaltungen. Auch draußen gibt es zahlreiche Interessenten für die zum Verkauf professionell in Szene gesetzten Oldtimer aus den 20er bis 70er Jahren. Zwar finde ich nur wenige in einer für mich akzeptablen Größe, das facht allerdings meine Kaufgelüste nur umso mehr an. Der Dämpfer naht sofort, ist eigentlich direkt bei mir: „Du hast schon so viele Räder im Keller. Da kommt keins mehr dazu. Wo willst du die alle hinstellen? Wag dich bloß nicht….“ Als guter Ehemann, in fast 40 Ehejahren geläutert, denke ich nur: „Aber deine Schuhe…“ Ich kenne ja die Antwort, dass dies ja etwas gaaaanz anderes sei, überhaupt nicht damit zu vergleichen. Also höre ich mich friedliebend sagen: „Du hast wahrscheinlich recht, Schatz, war nur so eine blöde Idee.“ An dieser Stelle ärgere ich mich einmal mehr über den Schrauber, der mir monatelang einen „Italiener“ versprochen hatte, in meiner Größe und mit orginalen Teilen und der sich dann nur mühsam an seine großspurige Ansage erinnern und mir dann doch nur einen Riesen-Rahmen andrehen wollte. Vorbei. Es kommen auch wieder bessere Tage. Jetzt geht es darum, ganz entspannt die letzten Stunden zu verbringen: Wenig Alkohol, keine schweren Speisen. Der Espresso war wohl auch nicht das Richtige. Mitternacht ist schon vorbei – habe ich überhaupt ein Auge zugetan – panischer Blick zur Uhr. Entwarnung. Nicht verschlafen, es ist erst 2.30 Uhr. Wie schön, noch ein bisschen liegenbleiben, entspannen, so gut es geht. Doch, trügt die Wahrnehmung oder ist es wirklich kühl geworden? Dann doch lieber die Decke zusätzlich aus dem Schrank holen? Jäh, mitten im schönsten Fahrradtraum, das scheußliche Piepen des Weckers. Vorbei die Nacht, raus und schnell kalt duschen. Oder doch lieber nicht? Das dauert ja alles viel zu lange und macht viel zu viel Krach. Aber was ziehe ich bloß an? Ok. Risiko. Kurz, mit Arm- und Beinlingen, falls es mittags viel wärmer werden sollte. Ein wenig Wasser, ein wenig Brot, kriege kaum was runter und leider bietet das Hotel keinen Helden-Service (im Unterschied zu den Hotels in den Dolomiten), noch mal zur Toilette, diesmal allerdings eine Kurz-Sitzung und um 5.34 Uhr stehe ich am Tisch, um mich einzuschreiben: 2060. Das Thermometer an der Apotheke zeigt 1o Celsius, meine Schreibhand zittert also wegen der Kälte, nicht wegen der Aufregung. Gemächlich rolle ich zum Start, es gibt einen Aufkleber aufs Rad und einen Stempel auf die Karte, nicht ganz ungewohnt.
Los! Sofort umfängt mich beißende Kälte und nach etwa 500 Metern, am Ortsausgang, finstere Nacht. Die Lampe, die ich nun hastig einschalte, lässt die Strecke auch nur erahnen, es scheint, die Batterien gehen zur Neige, es ist wie verhext. Zu meiner großen Freude kommt auch ab und zu ein Auto, das für einige Sekunden die Straße ausleuchtet. Die Kälte lässt mich schier erstarren, es greift immer mehr der Gedanke , jetzt besser umzukehren, noch eine Runde zu schlafen und dann eine schöne Ausrede zu erfinden. Es passiert wirklich nur im Kopf, alles. Völlig einsam in der Nacht, fast mechanisch trete ich in die Pedale, fahre jetzt langsam und hoffe, dass Leidensgefährten zu mir aufschließen. Nichts passiert, ich bin komplett allein in diesem Universum. Ich spüre Angst und Verzweiflung. Meine Finger sind so kalt, dass ich nicht mehr Schalten kann, ich werde langsamer, immer wieder geblendet von entgegenkommenden Fahrzeugen, fahre fast in einen Graben. Ich werde noch langsamer, mutlos, der Augenblick der Aufgabe ist nahe: DNF, did not finish. Na und? Wem soll ich denn noch was beweisen müssen? Jetzt wieder die andere Fraktion der Neuronen: Du Penner fährst gefälligst weiter und zwar ein bisschen zügiger; wir wollen diesen Jammerkram nicht mehr. Da kommt auch schon eine moderate Steigung, vielleicht bin ich bislang erst zehn Kilometer gefahren, und es wird von innen ein wenig wärmer. Die Finger allerdings sind eiskalt, klamm und es hilft auch nur kurzfristig, sie im Mund zu wärmen. Dann endlich flimmern vor mir rote Glühwürmchen, Rücklichter, und ich sehe eine größere Gruppe eine Kehre oberhalb von mir fahren, höre jetzt auch ihre Stimmen, ihr Lachen, ihre Aufmunterungen . Neue Hoffnung also, schnell den Anschluss finden. Einige haben starke Strahler und zusätzlich Helmlampen, einige fahren komplett ohne Licht; es herrscht eine ausgelassene Stimmung, ich werde als Mitfahrer zumindest zur Kenntnis genommen. Im Licht der Strahlemänner fahre ich die erste unbefestigte Strecke; moderat bergauf geht´s, nur ab und zu rutscht das Vorder- oder Hinterrad weg, bergab ist es ein russisches Roulette, holperig, anstrengend, in jeder Phase volle Konzentration erfordernd. Die Erschütterungen im Körper spüre ich noch Tage später. Endlich, nach einigen Kilometern (Pannen auch schon in der Anfangsphase, meist kaputte Schlauchreifen) wieder eine asphaltierte Straße. Durchatmen. Allerdings ist die Gruppe zersplittert, unter all den Verrückten gibt es noch Superverrückte, die nachts mit 50 km/h diese Pisten hinabschießen.
Siena erkenne ich auf einem Straßenschild, wir sind aus dem Chianti raus, es geht auf und ab, befestigte und unbefestigte Straßen. Die schwersten Abschnitte, so weiß ich heute, kommen erst später, am Nachmittag, Anstiege mit mehr als 15 Prozent, wo mal das Vorderrad wegrutscht, mal das Hinterrad durchdreht, sobald man aus dem Sattel geht. Und wenn man sitzen bleibt und über ein Steinchen fährt, hebt das Vorderrad ab. Aber irgendwie geht es doch und das zeitweilige Bedürfnis, wie so viele andere Teilnehmer doch jetzt besser zu schieben, wird nicht übermächtig. An vielen Steigungen bewundere ich die Ritter, die mit ihren Klassikern diese strapaziöse Tour auf sich nehmen.
Mittlerweile färbt sich der Horizont und die Dunkelheit zerstreut sich allmählich; es beginnt ein faszinierendes Ankommen in dieser unglaublich schönen Landschaft der südlichen Toscana. Die Temperatur wird erträglicher und die Helden auf ihren Oldtimern, die nun endlich richtig zu sehen sind, werden zu einem unauslöschlichen Erlebnis.
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Nach etwa 50 Kilometern kommt die erste Verpflegungsstation: Und es stimmen die Beschreibungen aus den Fahrrad-Magazinen, es gibt Rotwein, Schinken, Salami, Mortadella und andere Köstlichkeiten, aber auch ganz gewöhnliche RTF-Kost. Einige sind richtig beschwingt und trinken wohl auch mehr als ein Gläschen. Besser keinen Alkohol.
Weiter geht´s, immer auf und ab, mal asphaltiert, mal unbefestigt, eine wirkliche Herausforderung. Dann die Streckenteilung. Wie geplant biege ich zur 130er Strecke ab und bin plötzlich allein. Wie? Das gibt´s doch nicht. Auch die keuchenden und schiebenden Kollegen fahren die lange Strecke? Hey, was machen deine Beine? Also den Berg wieder hoch und in die große Runde einbiegen (natürlich hab´ ich mich dafür ein ums andere Mal gescholten und für blöde erklärt), der neuerliche Kampf zwischen Vernunft und Abenteuerlust. Jetzt, wo die Entscheidung gefallen ist, geht es darum, die Kräfte richtig einzuteilen und sich nicht zu kraftraubenden Duellen hinreißen zu lassen.
Phantastisch auch die Rast in Montalcino, der Heimat des berühmtes Brunello. Das Feld hat sich mittlerweile weit auseinandergezogen; immer wieder gibt jemand auf, ist erschöpft und mutlos oder entnervt wegen einer Panne. Die südliche Toscana, die Crete. Etrusker und Renaissance, die Gedanken fliegen und lassen die Strapazen vergessen, zumindest für ein paar Minuten. Hölle und Paradies – nur ein paar Kurbelumdrehungen voneinander entfernt. In der Mittagszeit gibt es warmes Essen, unter anderem eine Ribollita, eine toscanische Brotsuppe. Die schmeckt phantastisch, könnte aber doch etwas schwer im lippischen Magen liegen, also lieber nur Obst und Kuchen.
Am Nachmittag ziehen Wolken auf, es wird kühler, regnet aber nicht. Anstiege und Abfahrten sind gleichermaßen anstrengend und erfordern höchste Konzentration, die nicht mehr vollständig gelingt, es mehren sich kleine Fahrfehler, die glücklicherweise keine schlimmen Folgen haben. Besonders gefährliche Abfahrten werden gesondert markiert. Und das zu recht, die haben es wirklich in sich, Hände und Schultern schmerzen über die Maßen, braucht man auf der einen Seite alle Kraft, um den Tacho im zweistelligen Bereich zu halten, muss man auf der anderen Seite mächtig rackern, um nicht zu schnell zu werden. Gerne würde ich meinen Tacho befragen, wie viele Kilometer ich schon unterwegs bin, aber ich fürchte, ein solcher Blick könnte einen deprimierenden Kilometerstand anzeigen, einen, der noch von vielen anstehenden Mühen kündet.
Der Stand der Sonne, das Licht und die Schatten sagen, der Tag ist weit fortgeschritten. Und endlich werden die Namen der Ortschaften wieder vertrauter, schließlich die Erlösung, Gaiole, 7 Kilometer. Der kleine Umweg, noch einmal eine unbefestigte Strecke, steigert nur noch das Gefühl, endlich anzukommen, es ist geschafft. Glück, Erschöpfung, Euphorie. Die letzten Meter, das Spalier, die applaudierenden Zuschauer, überhaupt keine Schmerzen mehr, heil angekommen, mehr als zehn Stunden im Sattel. Es folgt ein letzter Stempel. Tolle Organisation, phantastische Dramaturgie, 212 Kilometer zeigt der Tacho an: L´Eroica 2008.